sirene OPERNTHEATER: MarieLuise (UA)

„MarieLuise“, das neue Musiktheater von sirene Operntheater, hat am 31. Dezember im Palais Kabelwerk in Wien Premiere. Mit: Salina Aleksandrova, Gerhard Hafner, Richard Klein, Johann Leutgeb, Iwona Sakowicz, Johannes Schwendinger, Günther Strahlegger, Lisa Rombach und Klaus Rohrmoser. Musikalische Leitung:  Gernot Schedlberger, Regie: Kristine Tornquist, Bühnenbild: Andrea Költringer, Kostüm: Markus Kuscher. Es spielt sas Rote Orchester: Claudia Schiske, Thomas Schön, Sabine Zwick, Hermann Ebner, Benjamin McQuade, Berndt Thurner, Ines Nowak-Dannoritzer, Martina Reiter, u.a.

Die Thematik – so konkret sie sich im Libretto als Sonderfall darstellt – ist natürlich eine symbolische. Wie kann eine menschliche Beziehung, die immer auf Rücksicht und Selbstbeschränkung beruht, in einer Welt bestehen, deren Dogma die unbedingte Selbstverwirklichung ist. Gerade der Topos der Politik, die doch das Miteinander der Menschen zu verwalten versucht, scheint ein ideales Labor, dieses Zerreissen von Bindungen darzustellen. Nicht umsonst wird der Sonderfall, in dem Marie und Luise, die siamesischen Zwillinge, leben, in der Welt der einzelnen Menschen eine Behinderung genannt. Sie behindern sich jedoch erst dann, wenn sie einander verlassen.

Inhalt

Marie und Luise sind sogenannte siamesische Zwillinge, sie teilen sich zwei Beine und zweieinhalb Arme, aber sonst ist jede von ihnen eine eigenständige Persönlichkeit. Weil sie sich in ihrer Gemeinsamkeit als vollkommen erleben, wollen sie sich politisch engagieren und treten gemeinsam in die gelbe Partei ein, auf deren Agenda das Soziale ganz oben steht. Doch lernen sie bald, dass die Politik ihre eigenen Gesetze hat. Albin, rechte Hand des Parteichefs Professor Hirsch, erklärt ihnen unverblümt, wie man sich in der Politik und bei den Medien durchsetzt. Nachdem die Zwillinge sich bewährt haben und in den Medien populär geworden sind, wird ihnen endlich ein Amt angetragen – das Sozialressort. Doch kann nur eine von ihnen vorne stehen. Die innerparteiliche Entscheidung zwischen Luise und Marie wird zur privaten Katastrophe. Marie verweigert in der Abstimmung ihre Stimme. Sie will nicht für sich gegen Luise stimmen. Die knappe Abstimmung fällt deshalb zugunsten Luises aus. Sie hält das für eine Station auf ihrem gemeinsamen Weg und übernimmt unbeirrt die Sozialagenden.

Doch Marie, die sich nicht damit abfinden will, dass Stimmen gegeneinander aufgerechnet werden, geht in Opposition zur violetten Partei. Marie und Luise gelten nun als Symbole der Koalition der beiden Parteien, obwohl sie privat längst nicht mehr im Einklang sind. Als jedoch die nächste Wahl ansteht, beschliessen die Parteien – getrieben von Spindoktor Albin – die Zwillinge wieder loszuwerden, da sie einen glaubwürdigen Wahlkampf gegeneinander erschweren. Marie und Luise werden also wieder zurück in ihr zweisames Leben katapultiert, doch nichts ist, wie es früher war. Marie hat sich in den Pressesprecher der Violetten, den schönen Alexander, verliebt und ihre zunehmende Opposition gegen Luise auf ihren geteilten Körper verlagert. Sie verlangt die Trennungsoperation, auch wenn als sicher gilt, dass nur eine von ihnen überleben wird. Luise, deren Chancen schlechter stehen, willigt ein. Sie erkennt erst jetzt, zu spät, dass sie nur in Einigkeit miteinander leben hätten können.

Siamesische Zwillinge zwischen Mysterium und Medizin

Eine Zygote. Eine Morula, erst 4, dann 8, dann 16, 32, 64 totopotente Zellen. Weiters eine Blastula, eine Blastozyste und dann die Keimscheibe. Ein erstes Blättchen. Eine Zukunft blättert sich auf, jeden Tag werden neue Details verzeichnet und neue Gleichungen erstellt. Ein Leben ist auf dem Weg, fährt im Boot seiner Menschenform von der Quelle des Styx auf dem anschwellenden Fluss vorwärts – guten Mutes Kapitän und Fracht des Lebens. Es muss am 14. Tag geschehen sein. Eine Blase bläht sich heraus, eins wird zwei. Ein Übermut des Wachstums? Oder ein kurzes Nein, das die Einheit entzweite…

Eineiige Zwillinge entstehen, wenn sich die befruchtete Eizelle in zwei vollständige und gleiche Teile teilt, aus denen sich im weiteren zwei genetisch idente Embryonen entwicklen. Läuft eine solche Teilung aber nach dem 13. Tag der Befruchtung nicht vollständig ab, bleiben die beiden Feten verbunden. Eine grosse Seltenheit – auf etwa eine Million lebend geborener Kinder kommt ein siamesisches Zwillingspaar.

Alle möglichen symmetrischen und asymmetrischen Formen, die diese misslunge Zwillingsteilung annehmen kann, sind etwa bereits auf babylonischen Keilschrifttafeln eingraviert. Aus dem Erscheinen bestimmter Missbildung wurden Rückschlüsse auf Sternkonstellationen gezogen. In der Antike vermutete man Traumen in der Schwangerschaft oder die Auswirkung eines Blickes der schwangeren auf etwas Erschreckendes oder Hässliches. In vielen Kulturen wurden sie als Gotteszeichen gedeutet, im Europa der Renaissance war man hingegen schnell mit dem Verdacht bei der Hand, die unglückliche Mutter habe sich mit dem Teufel eingelassen oder zumindestens einen bösen Blick auf sich gezogen. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wusste man jedenfalls keine Erklärung für diese „physica curiosa“. Den heutigen Namen trägt diese Form der Anomalie nach den thailändischen Zwillingen Eng und Chang Bunker, die nur an den unteren Rippen miteinander verbunden waren. Doch sie waren natürlich nicht der erste berühmte Fall. Die ältesten Zeugnisse in Europa sind die sogenannten Biddenden Maids, 1100 in England geboren, die vermutlich an den Hüften vewachsen waren. Die meisten siamesischen Zwillinge wurden als Monströsitäten durch Europa gefahren und auf Märkten gezeigt, im besten Fall konnten sie sich selbst vermarkten – wie etwa die Bunker Brüder.

Heute gibt es eine recht überschaubare Anzahl an siamesischen Zwillingen. Denn die pränatale Diagnostik führt fast prinzipiell zur Abtreibung. Nur wenige siamesische Zwillinge sind aus religiösen Gründen bewusst doch zur Welt gebracht worden. Zwillinge, die in Ländern zur Welt kommen, in denen moderne Diagnosetechniken nicht flächendeckend eingesetzt sind, werden wenn sie sich als überlebensfähig zeigen, gerne als medizinische Teststrecken als Kleinkinder bereits auseinanderoperiert, selbst wenn klar ist, dass nur eines überleben wird. In England ist in einem Fall 2000 sogar gerichtlich eine solche Operation gegen den Willen der Eltern verfügt worden. Denn für die einzelnen Menschen ist es offenbar nicht vorstellbar, dass man auch zu zweit ein vollständiges Leben führen kann – wie zum Beispiel die Schwestern Reba und Lori Shapell, die seit fast 50 Jahren bei aller Verschiedenheit ein gemeinsames Leben führen.

Gernot Schedlberger

Geboren 1976 in Steyr/Oberösterreich.
Nach Violin- und Klavierunterricht ab seinem vierten Lebensjahr am Brucknerkonservatorium Linz Studium Musiktheorie und Komposition von 1991 bis 1993, Diplom mit Auszeichnung im Oktober 1993. Von 1994 bis 1999 Studien an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien (Komposition und Orchesterdirigieren). Aufführungen seiner Werke (darunter vier einaktige Opern, zwei abendfüllende Ballettmusiken, Schauspielmusiken) im In- und Ausland, u.a. in Finnland, Deutschland, England, Kroatien und Russland (Moskauer Herbst). Dirigent zahlreicher eigener und fremder Uraufführungen, wie z.B. Dartington Express mit dem Ensemble 20. Jahrhundert Wien in Dartington/England, der beiden Bühnenmusiken O Wunder!Schöne Neue Welt am Schauspielhaus Salzburg und Tiergartenstraße 4 an der tribuene Berlin und der zwei abendfüllenden Musiken zum choreographischen Theater Der Ring des Nibelungen (in zwei Teilen) in der Regie/Choreographie Johann Kresniks an der Bonner Oper mit dem Beethoven Orchester Bonn. Er ist auch als ausübender Musiker sehr aktiv, z.B. als (Solo-)Korrepetitorn (Musikverein Wien, Wiener Singverein u.a.) und Pianist. Korrepetition von Solistenproben mit namhaften Solisten und Dirigenten. Seit Oktober 2003 unterrichtet er an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien als Assistent das künstlerische Hauptfach Harmonielehre/ Kontrapunkt bzw. Historische Satztechniken.

Zahlreiche Auszeichnungen
2007 Kompositionsförderung (Bundeskanzleramt), 2006 Würdigungspreis (Slatkonia-Preis 2006), 2005 Arbeitsstipendium der Republik Österreich, 2004 Kompositionsförderung (Bundeskanzleramt), 2002 Förderungspreis für Musik (Bundeskanzleramt Österreich), 2002 Theodor-Körner-Preis, 2002 Kompositionsförderung (Bundeskanzleramt), 2000 Clifton Parker Award (Dartington International Summer School), 1999 Würdigungspreis des Bundesministers für Wissenschaft und Verkehr.

Österreichische Musikzeitschrift, Oktober 2009 über „Der Heinrich aus der Hölle“, Uraufführung sirene Operntheater Juli 2009
… Am achten und somit vorletzten Abend stand Gernot Schedlbergers „Der Heinrich aus der Hölle“ unter der musikalischen Leitung des Komponisten auf dem Programm. Schedlberger sprach dieser Stoff sofort an, da er – gespickt mit den leidenschaftlichen Gefühlsausbrüchen von Rudolf II. – von sich aus sehr opernhafte Züge aufweist, die fast automatisch musikalische Ideen in Gang setzten. Die Handlung der Kurzoper kreist um den albtraumgeplagten Kaiser; ihr auffälligstes Charakteristikum ist die raffinierte, farbenreiche Instrumentierung – die meisten Musiker spielen im Verlauf mehrere Instrumente -, mit der Schedlberger die genreimmanenten Schrankenb vergessen lässt und sich als Meister des fliessenden Übergangs in den vier ineinander übergehenden, durchkomponierten Szenen zeigt; mit überlagernden Klangflächen baut er so en miniature gewaltige Spannung auf. Ungefähr ein Drittel der Oper besteht aus Vor- und Zwischenspielen – gewiss die gelungensten Teile. Auch die ritualisierte Fanfarenmusik der Schlüsselszene, einer Audienz beim Kaiser, sowie ihre szenische Umsetzung mit grotesk grossen Prachtroben, welche die Transformation vom Menschen zum Amtsträger fast schon ironisch brachen, überzeugte.

Eine Produktion von sirene Operntheater
Premiere: 31. Dezember 2012, Palais Kabelwerk (Beginn: 20.00 Uhr)
Weitere Vorstellungen: 3., 4., 5., 8., 9. Jänner 2013 (20.00 Uhr)
Palais Kabelwerk, Oswaldgasse 35A, 1120 Wien

Foto Marie Luise: sirene Operntheater